„Hier, probier das". Ich betrete an dem Abend als eine der Ersten das Rawabet-Theater in Downtown Kairo und werde aufgefordert, vom Brot, Olivenöl und Thymian (arabisch: "زعتر" ausgesprochen: zaʿtar) zu nehmen. Es duftet und schmeckt wunderbar. Ich suche mir einen Platz und gehe dabei an einer Küchenzeile vorbei, an der bereits geschnippelt wird. Ich lächle den beiden Köchen zu und setze mich. Wie ich später erfahre, neben die Ehefrau einer der Tänzer. Ich hatte eine leise Vorahnung, dass es ein wunderbarer Abend werden könne.
Auf das D-CAF (Downtown Contemporary Art Festival) in Kairo zu gehen, ist einer der wenigen Momente, in denen sich Kairo wie Zuhause anfühlt. Ich kenne das Festival inzwischen seit 10 Jahren und bin seit einigen Jahren auch als Journalistin dabei. Unter anderem habe ich in meinem #freitags Magazin im Artikel „Krise Krieg Kultur" über das D-CAF 2023 berichtet.
Das Downtown Contemporary Arts Festival (D-CAF) ist ein multidisziplinäres Kunstfestival, das jährlich in Kairo, Ägypten, stattfindet. Es präsentiert eine Vielzahl von Kunstformen, darunter Theater, Tanz, Musik, Film und virtuelle Kunst von internationalen Künstlern. Seit dem letzten Jahr gibt es aber auch einen Schwerpunkt auf Künstler aus dem arabischen Raum, was mir besonders gut gefällt. Vor allem ob der aktuellen Situation in Nahost. Das Festival hat zum Ziel, zeitgenössische Kunst in den urbanen Raum von Kairo zu bringen und ein breites Publikum anzusprechen. Inzwischen verzeichnet das Festival etwa 4.000 Besucher. In einer 20-Millionen-Stadt mag das wenig erscheinen. Doch das D-CAF in Kairo ist kein Ort für oberflächliche Instagram-Motive, sondern ein inzwischen bedeutendes Forum für zeitgenössische Kunst, das tiefgründige Inhalte über bloße Unterhaltung stellt. Es bietet Künstlern eine Plattform, um aktuelle gesellschaftliche und politische Themen zu reflektieren, einschließlich der Situation im Nahen Osten.
Ein herausragendes Beispiel hierfür war die Performance „Cosmos" der palästinensischen Künstlerin Ashtar Muallem auf dem D-CAF 2023
In diesem Stück setzt sich Muallem mit ihren eigenen Glaubensvorstellungen und ihrer Beziehung zu Religion und Mystik auseinander. „Cosmos" - so die Beschreibung - spielt mit Widersprüchen, indem es das Heilige und das Profane, das Mystische und das Meditative auf eine zarte, berührende und humorvolle Weise kombiniert. Für uns bedeutete die Begegnung auf dem D-CAF eine erste Konfrontation mit Gedanken und Gefühlen aus Palästina. Kurz nach dem 7. Oktober 2023 hat sich die Perspektive und die Art, wie ich auf die komplexe Situation in Nahost schaue, geändert. Was wusste ich außer den Schlagzeilen von Menschen aus Palästina? Diese Aufführung machte sehr deutlich, wie D-CAF Künstlern Raum bietet, um komplexe Themen zu erkunden und das Publikum zum Nachdenken anzuregen, anstatt lediglich oberflächliche Unterhaltung zu bieten.
Die fünf Geschmacksrichtungen sind süß, sauer, salzig, bitter und umami
Entsprechend hohe Erwartungen hatte ich an „Taste Me", eine interaktive Tanzperformance der ägyptischen Künstler Mohand Qader und Moustafa Jimmy. Diese beiden waren auch die Köche, die bereits seit Einlass des Publikums fleißig in der Küche auf der Bühne werkelten. Denn in „Taste Me" schlüpfen Qader und Jimmy in die Rollen von Tänzern und Köchen, die das Publikum auf eine sinnliche Reise durch die fünf Geschmacksrichtungen mitnehmen: süß, salzig, sauer, bitter und umami. Durch Tanz und kulinarische Elemente laden sie die Zuschauer ein, verschiedene Geschmäcker und damit verbundene Emotionen zu erleben, wobei persönliche und kollektive Erinnerungen im Vordergrund stehen.
Jede Geschmacksrichtung wird durch spezifische Tanzsequenzen und kulinarische Kostproben dargestellt, die das Publikum aktiv in das Erlebnis einbeziehen. Wer auf seinem Stuhl einen Aufkleber fand, der durfte zum Thema „Freude" auf die Bühne und den frisch gebratenen Fisch probieren. Wir anderen konnten uns an dem Duft des Fisches sowie an einem fröhlichen Tanz zu Mahraganat, populärer Musik auf Basis der Shaabi-Musik Ägyptens, freuen. Ich war begeistert, dass ich nicht nur sehen und fühlen durfte an dem Abend, sondern auch schmecken und riechen. Später gab es auch noch Schokolade zum Probieren.
Diese Herangehensweise ermöglicht es den Zuschauern, ihre eigenen Geschichten und Emotionen durch die universelle Sprache der Sinne zu reflektieren.
„Taste Me" ist ein Beispiel für die innovative Verschmelzung von Tanz und kulinarischer Kunst, die darauf abzielt, das Publikum auf mehreren Ebenen anzusprechen und eine tiefere Verbindung zwischen Künstlern und Zuschauern herzustellen. Wie wurden durch alle Emotionen geführt - vom fröhlichen Tanz über Gewalt, Wut, Trauer bis hin zum Erbrechen des mühsam Gekochten. Parallel dazu gab es Texte oder Visuals auf einem kleinen Bildschirm in der Mitte der Bühne. In die Realität wurden wir wieder zurückgeholt, als dort die Frage erschien: „Und wie schmeckt eigentlich Hunger?". Damit schloss sich der Kreis zum Beginn der Performance. Jede Aufführung des D-CAFs beginnt mit einer Schweigeminute in Erinnerung an die Opfer in Palästina, Libanon und Sudan. Bei der Frage nach dem Hunger musste ich dann schon tief Luft holen, erinnerte mich aber daran, dass Muslime diese Frage ja im Ramadan eigentlich beantworten könnten.
Ich wurde auf Mohand Qader aufmerksam
Wenn ich mir überlege, welche D-CAF-Performances ich besuchen und dann darüber berichten möchte, dann muss mich irgendetwas dazu ansprechen. Ich mag Contemporary Dance und Virtual Reality grundsätzlich sehr gerne und bin auch empfänglich für alle Künstler, die aus dem arabischen Raum kommen. In diesem Jahr vor allem auch aus dem Libanon. Auf „Taste Me" wurde ich aufmerksam, weil Mohand Qader mit Olivier Dubois gearbeitet hatte. Das Interview mit Olivier Dubois war Grundlage einer meiner besten Artikel: „Die Einsamkeit eines Königs".
Mohand Qader war Teil des Workshops „Itmahrag" und lernte Dubois dabei in einer künstlerischen und menschlichen Begegnung kennen, die von großer Kreativität geprägt war. Olivier Dubois, der seit vielen Jahre in Paris und Kairo abwechselnd lebt, brachte mit „Itmahrag“ im Jahr 2021 zum ersten Mal seine einzigartige Sicht auf das heutige Ägypten zum Ausdruck. Das Stück lädt dazu ein, in das Herz eines Tanzes einzutauchen, den Dubois als „entzündend“ beschreibt – ein Tanz des Feuers, das das Blut zum Kochen bringt, Angst macht, oft brennt, aber immer wärmt. Inspiriert von Mahraganat greift „Itmahrag“ die Lebensfreude und Energie der ägyptischen Jugend auf. Mahraganat ist die ägyptische Straßenmusik voller Slang und improvisierter Rhythmen, die überall zu hören ist – in Taxis, bei Straßenhändlern, auf Hochzeiten und Partys, egal ob chic oder bodenständig.
In Zusammenarbeit mit B’sarya for Arts in Alexandria und dem Ezzat Ezzat Contemporary Dance Studio in Kairo führte Dubois dreimonatige Tanz- und Musikworkshops für junge ägyptische Künstler durch. Mohand Qader war Teil davon und lernte dort auch Moustafa Jimmy kennen.
Ich hatte das Glück, im Anschluss an die Performance mit Mohand Qader ein Interview zu führen zu dürfen
Mit ihm traf ich einen jungen Mann, noch keine 30, mit sehr feinen Gesichtszügen und einem entwaffnenden Lächeln. Auf den ersten Blick wirkt er zart, doch als Tänzer strahlt er eine bemerkenswerte Kraft aus, die seiner Erscheinung eine faszinierende Ausstrahlung verleiht.
Wir begannen unser Gespräch mit der Idee hinter dem Stück. Sowohl Mohand als auch Moustafa leben mittlerweile nicht mehr in Ägypten. Mohand lebt in der Nähe von Paris, Moustafa inzwischen in Berlin. Sie arbeiteten aber in Paris gemeinsam in einer Küche, quasi als Day-Job. So entstand die Inspiration, Geschmacksrichtungen mit Emotionen zu verknüpfen und auf die Bühne zu bringen. Alle Emotionen des Lebens sollten in ihrem Stück zum Ausdruck kommen – von Liebe über Gewalt bis hin zu Trauer. Ich gebe ihm das Feedback, dass ihnen das aus meiner Sicht wirklich gelungen sei. Durch die Interaktion mit dem Publikum ist jedoch jede Aufführung anders. Die Premiere war etwas voller als die zweite Vorstellung, doch letztere fühlte sich intensiver an. Und immer wieder passiert Unvorhergesehenes: So fing in unserer Vorstellung plötzlich der Inhalt des Mülleimers in der Küche Feuer. Eine Zuschauerin reagierte schnell und löschte den entstehenden Brand. Mohand schmunzelte und meinte, er hätte ihr gern eine kleine kulinarische Belohnung zukommen lassen, konnte sich aber mitten in der Performance nicht mit Moustafa darüber verständigen.
Mohand Qader ist ein autodidaktischer Performer. Er studierte ursprünglich Bildende Kunst an der Universität Alexandria und fand über Theaterprogramme zur Tanzkunst. Unter der Leitung von Lucien Arino am Centre Rézodanse entwickelte er seinen Stil weiter. 2018 trat er dem Kollektiv „Khalf40“ unter der Leitung von Mohamed Fouad bei. Schließlich entdeckte ihn der französische Choreograf Olivier Dubois, und Mohand wurde Teil von „Itmahrag“.
Mohand stammt ursprünglich aus Kafr asch-Schaich im Nildelta. Ich frage ihn, ob es nicht ungewöhnlich sei, dass sich ein junger Mann aus dem Nildelta dem Tanz widmet. Doch er erzählt, dass seine Familie ihn dabei immer unterstützt habe. Einfach sei das Leben als Tänzer jedoch nicht – weder in Ägypten noch in Paris. Wir sprechen darüber, welche Erfahrungen er mit Olivier Dubois gemacht und wie er diese Zeit erlebt hat. Mona, meine Ansprechpartnerin für die Presse, meinte sogar, dass sie in Qaders Tanzstil ein wenig von Dubois’ Einfluss wiedererkenne.
„Taste Me" - Kunst oder Entertainment?
Zum Abschluss unseres Gesprächs stelle ich Mohand Qader eine Frage, die mir besonders am Herzen liegt. Mit Olivier Dubois hatte ich einst eine Diskussion über die Frage, ob sein Stück „Memories of a Lord“ Kunst oder Entertainment sei. Für Dubois war der Unterschied klar und er machte das auch sehr entschieden deutlich: Während Entertainment Emotionen weckt, wirft Kunst Fragen auf. Und Dubois macht Kunst. Und Mohand Qader? Wie steht er dazu? Ist „Taste Me" Kunst oder Entertainment?
„Beides" war die Antwort. Er erklärt, dass das Interesse des Publikums zunächst geweckt werden müsse – schließlich nutzt die beste Kunst nichts, wenn sich die Zuschauer langweilen. Wenn das Publikum neugierig wird und sich auf die Emotionen einlässt, könne die Kunst fließen und kritische Fragen werden eingebracht. In „Taste Me“ sei die entscheidende Frage letztlich die nach dem Hunger gewesen – als Reflexion auf die Welt um uns herum.
Das D-CAF in Kairo zeigt meines Erachtens, dass Kunst dort beginnt, wo Erwartungen durchbrochen werden. Mit Stücken wie „Taste Me“ entstehen Momente, die das Publikum herausfordern und gleichzeitig eine leise, aber intensive Verbindung zu Themen der Gegenwart herstellen – ohne dass es klare Antworten gibt, aber mit Raum, selbst zu spüren und zu reflektieren.
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