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Autorenbild@Nika

Hippies mit Krankenversicherung

Nicht jeder, der Homeoffice macht, ist ein digitaler Nomade, und nicht jeder digitale Nomade ein Hippie.


Wer Homeoffice macht, kann trotzdem unfrei sein


Bedingt durch Corona hat die Arbeit von Zuhause im Jahr 2020 laut Statista um 82 % zugenommen. Allerdings sind nicht alle diese Menschen digitale Nomaden. Manche machen nur schlichtweg ihre Arbeit derzeit von zuhause aus. Auch würden wir diejenigen, die sich an freien Tagen in einem schicken Hotel einmieten und sich dorthin Arbeit mitnehmen, nicht als digitale Nomaden bezeichnen. Der Grund ist ganz einfach. Digitale Nomaden sind frei, zu leben und zu arbeiten, wo sie möchten. Wer derzeit angestellt im Home-Office arbeitet, kann nach Corona jederzeit wieder verpflichtet werden, ins Büro oder in die Schule zurück zu kehren. Die Entscheidung liegt somit beim Arbeitgeber und nicht bei der Person selbst. Er oder sie hat also mit Hippie oder digitalen Nomaden nichts zu tun.


Hippies wollen frei leben ohne gesellschaftliche Zwänge


Das Eish-wa-Malh liegt in Kairo direkt gegenüber von der Synagoge. (c) Facebook/Eish-wa-Malh

Sie tun das in Kommunen, in liberalen Städten, an Stränden und auf Festivals und wo immer es ihnen gefällt. Sie leben wie und mit wem sie möchten, tragen Kleidung die ihnen gefällt und befreien sich weitestgehend von gesellschaftlichen Normen. Dennoch kommen auch die meisten Hippies nicht ohne Geld aus. In Dahab trifft man sie als Schmuckhersteller und -verkäufer, Verkäufer von Reispudding oder Kuchen, Kaffeezubereiter, Musiker, Yogalehrer und Reikimaster. Sie leben am Strand oder in AirBnB-Wohnungen und haben eine wildromantische Aura, die auf ein beneidenswertes Leben schließen lässt. In Gesprächen erfahre ich, dass auch Hippies Sorgen haben. Einige von ihnen leben nicht am Strand, weil es cool ist, sondern weil sie kaum Geld haben. Von Krankenkasse oder Ersparnissen ganz zu schweigen. Sie sind zufrieden mit dem einfachen Leben, haben aber auch Ängste, wenn es um die Zukunft geht. Andere verdienen wiederum ganz gut und können von ihrem Einkommen leben und sehen das Hippie-Sein vor allem als innere Haltung.


Diese ist bei vielen digitalen Nomaden auch zu finden. Digitale Nomaden sind häufig Hippies mit Krankenversicherung. Wenn sie feste Auftraggeber oder gar einen festen Arbeitgeber haben, dann können digitale Nomaden zwar arbeiten wo sie möchten, befinden sich jedoch in einem mehr oder weniger geregelten Arbeitsleben. Die meisten von ihnen sind im IT-Bereich tätig. Das ermöglicht ihnen ein weitestgehend gesichertes Einkommen, das wiederum eine Krankenversicherung und einen angenehmen Lebensstandard ermöglicht, vor allem, wenn der Arbeitsplatz ihrer Wahl im Vergleich zu Deutschland kostengünstig ist. Weltweit ist daher Südostasien sehr beliebt, in Europa ist es Zypern.


Ein halbwegs gesichertes Einkommen bringt auch Verpflichtungen mit sich


Wer deutscher Staatsbürger ist und für einen deutschen Arbeitgeber tätig ist, egal von wo aus, hat auch in Deutschland noch Verpflichtungen. Und die sind teilweise ganz schön kompliziert. Da ist es dann manchmal nicht mehr weit her mit einem Hippie-Feeling. Arbeit, die in oder für Deutschland geleistet und vor allem dort verwertet wird, muss auch in Deutschland besteuert werden. Wer in Deutschland gemeldet bleibt, ist sozialversicherungspflichtig. Wer länger pro Jahr als 183 Tage im Ausland lebt, darf eigentlich nicht in Deutschland gemeldet sein, es sei denn... Und diese "es sei denn" - Regelungen sind das, was es kompliziert macht. Da hilft dann nur ein kompetenter Steuerberater und sehr viel Recherche und der Austausch mit Gleichgesinnten. In Facebook gibt es unzählige Digital-Nomaden-Gruppen, deutsch und international. Viele Deutsche wollen für ihren Arbeitgeber mit Familie mal für zwei Jahre ins Ausland. Das sind dann aber Expats und keine Digitalnomaden. Andere sind völlig unbedarft und wollen nur irgendwas tun, was ihnen das Leben am Strand ermöglicht. Reisen zum Teil ohne Aufträge oder Ausbildung und ohne genaue Vorstellung und schreiben dann E-Books oder unseriöse Internetinhalte, um zu überleben.

Ganz ohne Ramadan-Glitter kommt man auch in urbaner Umgebung nicht aus (c) Facebook/Eish-wa-Malh

Krankenkassen haben noch immer kein Modell geschaffen, mit dem sich Digitalnomaden versichern können um nach ihrer Rückkehr in Deutschland wieder gesetzlich krankenversichert zu werden. So ein Modell sei für die kleine Zielgruppe derzeit nicht interessant, heisst es aus zahlreichen Online-Quellen. Die deutsche gesetzliche Krankenversicherung gilt aber nur in Europa. Nichts mit Südostasien. Mit deutscher Nationalität steht man im Zweifelsfall mit einem Bein immer noch mental in Deutschland und muss sich um Steuererklärung und Sozialabgaben kümmern. Die Vorteile eines geregelten Einkommens überwiegen aber den administrativen Sorgen, und so ist es ein angenehmes Gefühl, tagsüber mit dem Laptop mit allen anderen, die ähnlich leben, im Café zu sitzen und zu schreiben und dann entscheiden zu können, ob man den Abend am Strand oder auf dem Rooftop verbringen möchte. Außerdem wird Arbeit für deutsche Auftraggeber auch nach deutschen Konditionen bezahlt. Auf internationalen Arbeitsplattformen konkurriert man immer mit Indern und anderen Arbeitswilligen aus Niedriglohnländern, die auch für 4 - 5 Euro brutto pro Stunde arbeiten. Dafür bekommt man keine journalistische Qualität, wenn es ums Schreiben geht, aber die ist für viele sogenannte Content-Anbieter, die oft wirklich unseriös sind, auch nicht notwendig. Wenn der Arbeitsauftrag lautet, irgendwelche Bildtitel zu finden, die dazu führen, dass der Artikel angeklickt wird, egal ob der Text zum Bild passt und das Bild lizenziert ist, dann braucht es dazu keinerlei Ausbildung. Ich bin dankbar, dass ich auf solche Angebote derzeit nicht angewiesen bin. Ebenso muss ich mich nicht im Internet oder in den sozialen Medien prostituieren und Reiseblogs erstellen oder filmen, wie ich Produkte auswickle und damit Follower generieren. Ich glaube, wenn es mal so weit käme, dass ich mich so von den sozialen Medien abhängig machen würde und mit aller Macht meine Inhalte verkaufen müsste, dann würde ich lieber wieder als Musiklehrerin an einer Schule, als Sekretärin in einem Betrieb oder im Kundenservice einer Bank arbeiten. Von Twitter habe ich mich inzwischen sogar wieder abgemeldet. Ich habe derzeit nichts zu sagen, was man unbedingt auf Twitter lesen müsste.


Als freiberufliche Journalistin bin ich eigentlich kein digitaler Nomade


Ich habe ja meinen Wohnsitz in Kairo, von dem aus ich in die Welt starte. Wenn die Welt mich denn mal wieder lässt. Ich bin freiberuflich und arbeite Remote. Ich habe noch nie so perfekt funktionierende Digitalprozesse gesehen, wie bei meinem jetzigen Hauptauftraggeber. Die zu schreibenden Artikel kommen in Auftragspaketen mit einer Deadline. Diese sind mit Arbeitsaufträgen verbunden, die im Jira-System von Atlassian verbunden sind. In Jira weise ich mir den Artikel, den ich schreiben möchte, zu und sage dem System "Start Work". Mein Briefing, also was in dem Artikel alles enthalten sein muss, ist im Arbeitsauftrag verlinkt. Bin ich mit dem Schreiben fertig, erkläre ich das auch dem System und sage "Ready for Lektorat". Die Lektoren bekommen dann eine Nachricht, dass dieser Artikel von mir erstellt wurden und lektorieren ihn. Passt alles, veröffentlicht das Lektorat den Artikel, gibt es etwas zu korrigieren meinerseits, beispielsweise weil ich ein Bild vergessen habe, dann landet der Arbeitsauftrag als "In work over" wieder in meiner To-Do-Liste mit entsprechendem Kommentar. Ich erledige die Korrekturen, sage "Work over fertig", dann wird es nochmal im Lektorat angesehen und veröffentlicht. Kommuniziert wird über Slack oder per E-Mail. Schulungen für das neue Backend gab es per Zoom. Nachdem ich in meiner Banklehre noch Faxe versenden musste, bin ich davon absolut begeistert. Andere Auftraggeber können da nicht mithalten. Bei einem weiteren Auftraggeber, auch in Berlin, geht alles über E-Mail und mit Worddokumenten. Ein anderer Anbieter hat ein eigenes Backend, in dem die Order, also die Aufträge, einsehbar sind und man sich Aufträge schnappen kann. So professionell wie Jira und Atlassian ist es aber lange nicht.


Auch in Kairo möchte ich nicht jeden Tag alleine zuhause arbeiten


Für das Jahr 2020 hat Statista die Anzahl der Coworking-Arbeitsplätze auf 26.000 weltweit geschätzt. Dort treffen sich Freiberufler oder digitale Nomaden oder Leute, die keine Lust auf Home-Office alleine haben, um sich ein Büro zu teilen. In Downtown gibt es ein Coworking-Space in der Talaat-Harb-Straße und ein weiteres im Greek Campus. Aufgrund von Corona verzichte ich jedoch, derzeit in geschlossenen Räumen mit anderen zu arbeiten. Allerdings liebe ich das Greek Campus sehr und will, wenn es die Situation im Herbst erlaubt, mich der Gemeinschaft dort zum gelegentlichen miteinander arbeiten anschließen. Als Journalistin bin ich immer auch auf neue Erlebnisse, Gespräche und Begegnungen angewiesen, und die finde ich nicht in meiner Home-Office-Loggia.

Am offenen Fenster ist es manchmal laut, aber halbwegs geschützt vor Corona (c) Facebook/Eish-wa-Malh

So mache ich mich in Downtown auf die Suche nach einem geeigneten Café, ähnlich wie in Dahab, wo ich Gleichgesinnte treffe, die ähnlich arbeiten wie ich. Das ist nicht ganz einfach. Zum einen ist Ramadan und vieles hat geschlossen. Zum anderen möchte ich mich nicht mit Corona anstecken. Dann darf es nicht zu heiß sein, im Moment sind in Kairo tagsüber um die 40 Grad. Es braucht stabiles WLAN und, für mich ganz wichtig, Tische in Schreibtischhöhe. An so Kleinigkeiten merke ich, dass ich oft wesentlich älter bin, als die vielen jungen Leute, die in Cafés oder am Strand mit dem Laptop auf den Knien schreiben. Nach meiner Augenoperation muss ich verhältnismäßig nah am Laptop sitzen, sonst seh ich nichts. Dann darf es nicht zu laut sein. In Dahab haben wir einige nette Locations gemieden, weil sie den ganzen Tag nervige Musik dudeln. Und es darf nicht zu teuer sein und erst recht keine Minimum-Charge erheben. Noch vor Dahab war ich gerne in der Orangette in Zamalek, da ist es mir draußen aber im Moment zu heiß, das wird wieder eine Option wenn es kühler wird. In Downtown finde ich das Eish-wa-Malh super. Ich sitze zwar drinnen, allerdings sind die Fenster weit geöffnet. Es gibt eine Klimaanlage und auch Ventilatoren. Ich bin nicht die Einzige mit Laptop, einige gesellen sich auch einfach mit einem Buch dazu. Der Kaffee ist bezahlbar, das Personal freundlich. Im Eish-wa-Malh erfahre ich ein urbanes Leben, wie ich mir das moderne Stadtleben vorstelle. Ob ich dabei Hippie oder Nomade oder einfach freie Journalistin bin, ist mir eigentlich egal. Für mich ist es derzeit gut, wie es ist. Und dafür bin ich dankbar.



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